Konkrete oder abstrakte Betrachtungsweise?

Heute schaue ich mir wieder einmal den Beitrag von Cathrin Mächtle „Das Vorabentscheidungsverfahren“ in der JuS 2015, 314ff an. Auf Seite 315 heißt es:

Dagegen haben letztinstanzlich entscheidende Gerichte kein Ermessen, ob sie eine Frage dem EuGH vorlegen. Gerichte, gegen deren Entscheidung es im konkreten Instanzenzug kein Rechtsmittel mehr gibt, sind nach Art. 267 III AEUV verpflichtet, Fragen zur Auslegung und zur Gültigkeit von EU-Recht vorzulegen (obligatorische Vorlagepflicht).

In der Fußnote 22 steht:

Zum Begriff des letztinstanzlich entscheidenden Gerichts EuGH, C-416/10, ECLI:EU:C:2013:8 = NVwZ 2013, 347 – Križan u. a.

Damit wird ein sehr klausurrelevantes Problem nur angedeutet. Leser erkennen so möglicherweise nicht, dass an dieser Stelle in einer Klausur ein kleiner Streitentscheid erforderlich ist.

Ein Blick in Herdegen, Europarecht, 2014, § 9 Rn. 30, informiert über den Theorienstreit um das letztinstanzlich entscheidende Gericht:

Die Pflicht zur Vorlage ergibt sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV für Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden können. Umstritten ist dabei, ob nur die jeweiligen obersten Gerichte eines Gerichtszweiges vorlagepflichtig sind (so die abstrakte Theorie), oder ob es auf die Nichtanfechtbarkeit im Einzelfall ankommt (konkrete Theorie).

Letztlich folgt die h.M. wie Mächtle der konkreten Theorie. Das sollten wir in einer Klausur aber begründen. Man könnte so wie Schroeder, Grundkurs Europarecht, 2013, § 9 Rn. 83 formulieren:

Die Anwendung der abstrakten Betrachtungsweise, die nur die hierarchisch höchsten Gerichte (BGH, BVerwG etc.; OGH, VwGH in Österreich) für vorlageverpflichtet hält, würde dazu führen, dass in bestimmten Verfahren u. U. gar kein Gericht vorlagepflichtig ist, womit die Funktion von Art. 267 AEUV […] vereitelt würde.

Erdbeere

 

Wir merken uns: Zur Frage, was unter einem letztinstanzlich entscheidenden Gericht iSv Art. 267 III AEUV zu verstehen ist, sollten wir in einer Klausur beide Ansichten darstellen und auch begründen, warum wir der konkreten Theorie folgen. Und so wollte man es auch von einem Kollegen in meiner mündlichen Prüfung wissen, der dann mit der Darlegung beider Theorien „punktete“.

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