Wenn ein Amtsgericht Arbeitsrecht prüft …

Im Urteil des AG Tiergarten, 03.02.2016,  (342 OWi) 3022 Js-OWi 12912/15 (490/15) heißt es unter Randnummer 7:

Der Betrieb des Betroffenen verfügt ausweislich seines eigenen Vortrags über sechs Mitarbeiter und unterliegt damit gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes der sog. Sozialklausel.

Der betriebliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes soll also nach § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG eröffnet sein, weil in dem Betrieb des Betroffenen mehr als sechs Mitarbeiter beschäftigt sind.

Kann das so seine Richtigkeit haben?

Schauen wir uns § 23 Abs. 1 KSchG also einmal in seiner vollen Schönheit an:

[1] Die Vorschriften des Ersten und Zweiten Abschnitts gelten für Betriebe und Verwaltungen des privaten und des öffentlichen Rechts, vorbehaltlich der Vorschriften des § 24 für die Seeschiffahrts-, Binnenschiffahrts- und Luftverkehrsbetriebe.

[2] Die Vorschriften des Ersten Abschnitts gelten mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden.

[3] In Betrieben und Verwaltungen, in denen in der Regel zehn oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden, gelten die Vorschriften des Ersten Abschnitts mit Ausnahme der §§ 4 bis 7 und des § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 nicht für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nach dem 31. Dezember 2003 begonnen hat; diese Arbeitnehmer sind bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach Satz 2 bis zur Beschäftigung von in der Regel zehn Arbeitnehmern nicht zu berücksichtigen.

[4] Bei der Feststellung der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer nach den Sätzen 2 und 3 sind teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen.

Zugegeben, diese Norm erschlägt einen als Leser zunächst. Trotzdem ist es wichtig, den Inhalt von § 23 Abs. 1 KSchG zu verstehen, damit die Norm in einer Klausur richtig angewendet werden kann.

Wie sich aus dem Verhältnis von Satz 2 zu Satz 3 ergibt, muss zwischen Arbeitsverhältnissen unterschieden werden, die vor bzw. nach dem 31. Dezember 2003 begonnen haben:

  • Satz 3 bezieht sich auf Arbeitsverhältnisse, die nach dem 31. Dezember 2003 begonnen haben.
  • Satz 2 bezieht sich auf Arbeitsverhältnisse, die vor dem 31. Dezember 2003 begonnen haben.

Für Arbeitsverhältnisse, die nach dem 31. Dezember 2003 begonnen haben, gilt, dass der betriebliche Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes nur dann eröffnet ist, wenn in dem Betrieb in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden (ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten).

Schwieriger ist die Rechtslage wenn die Arbeitsverhältnisse betrachtet werden, die vor dem 31. Dezember 2003 begonnen haben. Hier hat sich der Gesetzgeber für einen Bestandsschutz entschieden. Arbeitnehmern, die bis zum 31.12.2003 nach altem Recht Kündigungsschutz genossen haben, soll dieser Schutz nicht entzogen werden. Dies gelingt konstruktiv dadurch, dass ein sog. „virtueller Altbetrieb“ angenommen wird. Für diesen gilt weiterhin der frühere niedrigere Schwellenwert. Sobald der Kündigungsschutz nach altem Recht für die Arbeitnehmer in diesem virtuellen Betrieb verloren geht, also die Anzahl der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer unter den alten Schwellenwert fällt, gelten für diese „Alt-Arbeitnehmer“ die neuen Schwellenwerte.

Mit diesem Wissen ausgestattet können wir nun die Feststellung des AG Tiergarten überprüfen:

Der Betrieb des Betroffenen verfügt ausweislich seines eigenen Vortrags über sechs Mitarbeiter und unterliegt damit gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes der sog. Sozialklausel.

Sollte das Arbeitsverhältnis des betroffenen Arbeitnehmers erst nach dem 31. Dezember 2003 begründet worden sein, so gelten für ihn die neuen Schwellenwerte. Es käme also darauf an, ob in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt werden.

Sollte das Arbeitsverhältnis des betroffenen Arbeitnehmers schon vor dem 31. Dezember 2003 begründet worden sein, so könnte durch die Konstruktion eines „virtuellen Altbetriebes“ die Anwendung der alten Schwellenwerte möglich sein. Dazu wäre jedoch erforderlich, dass die Arbeitsverhältnisse der fünf weiteren Mitarbeiter ebenfalls schon vor dem 31. Dezember 2003 begründet wurden.

Wir sehen: Die Begründung des AG Tiergarten genügt nicht, um überzeugend die Eröffnung des betrieblichen Anwendungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes darzulegen.

[Wer sich für weitere „Untiefen“ im Urteil des AG Tiergarten interessiert, sei auf den Verkehrsrechts-Blog der GFU verwiesen.]

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