Ist für die sofortige Vollziehung eines VA ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich?

Bei Pötters/Werkmeister in Basiswissen Jura für die mündlichen Prüfungen, 2015, S. 161ff finden wir einen „Mustervortrag Öffentliches Recht“. Dabei geht es um einen Antrag nach § 80 V 1 Alt. 2 VwGO.

Auf Seite 164 heißt es:

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, wenn im Rahmen einer Abwägung zwischen öffentlichem Vollzugsinteresse des Verwaltungsaktes und individuellen Aussetzungsinteresse letzteres überwiegt. Auch ist der Antrag schon dann begründet, wenn im Fall des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGo die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtsfehlerhaft erfolgte.

[Hier wäre das jeweils korrekte Normzitat § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO bzw § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO; der Bezug im Gesetz selbst in § 80 III 1 VwGO auf „§ 80 II Nr. 4 VwGO“ ist insofern ungenau; so auch die anderen Bezugnahmen in § 80 VwGO auf die § 80 Abs. 2 VwGO]

Auf Seite 165 wird die Abwägung dann näher konkretisiert:

Im Übrigen richten sich die Erfolgsaussichten des Antrags nach einer Interessenabwägung. Der Antrag ist begründet, wenn das Interesse des V an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (Aussetzungsinteresse) das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung (Vollziehungsinteresse) überwiegt. Dies richtet sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache […]

Auf Seite 170 folgt dann das Ergebnis der Interessenabwägung:

Ist der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolglos, so überwiegt das öffentliche Vollzugsinteresse gegenüber dem Aussetzungsinteresse des V.

Die Frage, die wir uns hier jetzt stellen müssen: Kann man bei voraussichtlicher Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs in der Hauptsache gewissermaßen „automatisch“ das öffentliche Vollzugsinteresse überwiegen lassen?

Dazu heißt es in einer Fallbearbeitung von Körlings/Tönningsen in der JuS 2014, 422 (427):

Fraglich ist allein, ob es in den Fällen des § 80 II 1 Nr. 4 VwGO eines besonderen über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen VA hinausgehenden Vollzugsinteresses bedarf.

Aus Sicht der Autoren ist folgendes Argument relevant:

Das ließe sich etwa damit begründen, dass es anders als in den Fällen von § 80 II 1 Nrn. 1–3 VwGO nicht schon der Gesetzgeber ist, der dem Vollzugsinteresse insoweit generell den Vorrang einräumt, sondern erst die Verwaltung kraft eigener Einzelfallentscheidung.

Nachdem wir das Problem verstanden haben, sollten wir uns noch ein Pro- und ein Contra-Argument merken.

Zunächst die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts:

Auszugehen ist davon, daß die grundsätzlich durch Widerspruch und Klage herbeigeführte aufschiebende Wirkung ein Wesensmerkmal des im GG gewährleisteten Verwaltungsrechtsschutzes ist. […] Die in der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe liegende Sicherung vorläufigen Rechtsschutzes gehört daher zu den wesentlichen Elementen des Rechtsschutzes überhaupt […]. Im Hinblick auf diese Gewährleistung ist für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgehen muß, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt […]. Ein solches besonderes öffentliches Interesse ist allerdings regelmäßig dann anzuerkennen, wenn sich bereits im Verfahren auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung erkennen läßt, daß die gegen den Verwaltungsakt eingelegten Rechtsbehelfe im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg haben können. Denn an der alsbaldigen Vollziehung eines vom Betroffenen offensichtlich zu Unrecht angegriffenen Verwaltungsaktes wird in aller Regel ein besonderes öffentliches Interesse bestehen, wie sich umgekehrt das überwiegende Interesse des Betroffenen an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes in aller Regel schon aus dem. Umstand ergibt, daß der Rechtsbehelf offensichtlich begründet ist.

(BVerwG, Beschluss vom 29.04.1974, IV C 21.74; Hervorhebung nicht im Original)

Und dann die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts:

Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage ist eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und „ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses” […]. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozeß nicht schlechthin […] Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dies muß jedoch die Ausnahme bleiben. Eine Verwaltungspraxis, die dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrte, indem z.B. Verwaltungsakte der vorliegenden Art generell für sofort vollziehbar erklärt werden, und eine Rechtsprechung, die eine solche Praxis billigte, wären mit der Verfassung nicht vereinbar. Für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes ist daher ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt.

(BVerfG, Beschluss vom 18.07.1973, 1 BvR 23 u. 155/73; Hervorhebung nicht im Original)

Frosch

 

Wir merken uns: Wenn wir in einer Klausur einen § 80 V 1 Alt. 2 VwGO – Fall zu lösen haben und zu dem Ergebnis gelangen, dass der Rechtsbehelf in der Hauptsache erfolglos sein wird, so sprechen wir die Problematik eines Dringlichkeitsinteresse / überwiegenden Vollzugsinteresses / über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen VA hinausgehenden Vollzugsinteresses an.

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