Chia-Samen: Maximal 15g pro Tag kraft Europarecht?

Heute einmal wieder etwas aus der Rubrik „Europarecht im Alltag“. Letzte Woche habe ich Chia-Samen gekauft. Soll ja gesund sein, und man kann sein eigenes Öl daraus pressen.

Auf der Rückseite der Verpackung war dann aber – was die Freude etwas trübte – zu lesen:

„Gemäß der Novel Food VO (EG) 258/97 und Beschluss 2012/50/EU dürfen täglich maximal 15 Gramm Chia-Samen verzehrt werden.“

Sollte da für die EU verbindlich (“dürfen“) eine tägliche Verzehrobergrenze von 15 g festgelegt worden sein? Hat man unionsrechtlich in meine Verzehrgewohnheiten eingegriffen? Haben wir einen Fall von Über-Regulierung vor uns?

Wenn man der Sache näher nachgeht und die Recherche mit der zitierten „Novel Food VO (EG) 258/97“ beginnt, ergibt sich Folgendes:

Die „Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten“ gilt nicht mehr. Sie galt nur bis zum 31.12.2017.

An ihre Stelle getreten ist die „Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission„.

Kompliziert, aber deutlich, was die Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 angeht, auf die sich das Etikett meiner Chia-Samen-Verpackung bezieht.

Und wie steht es mit dem auf dem Etikett des Weiteren zitierten „Beschluss 2012/50/EU“? Den gibt es. Er heißt in voller Länge so:

„Durchführungsbeschluss der Kommission vom 22. Januar 2013 über die Genehmigung einer Erweiterung der Verwendungszwecke von Chiasamen (Salvia hispanica) als neuartige Lebensmittelzutat gemäß der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates (Bekanntgegeben unter Aktenzeichen C(2013) 123)“

Dieser Beschluss richtete sich an das australische Unternehmen „The Chia Company“. Und darin finden wir in Art. 2 den Verzehrhinweis „Nicht mehr als 15 g täglich“:

Die Bezeichnung in der Kennzeichnung von Lebensmitteln, die gemäß diesem Beschluss zugelassenen Chiasamen (Salvia hispanica) enthalten, lautet „Chiasamen (Salvia hispanica)“.

Bei vorverpacktem Chiasamen (Salvia hispanica) ist eine zusätzliche Kennzeichnung erforderlich, welche die Angabe für den Verbraucher enthält, dass eine tägliche Aufnahme von 15 g nicht überschritten werden darf.

Müssen wir also als Verbraucher unseren Chia-Samen für den Tagesgebrauch jeweils auf 15 g portionieren?

Praktisch-gesundheitlich vermutlich nicht. Denn die Zeit ist weitergegangen und man hat neue Erkenntnisse zum Chia-Samen gewonnen. Das „Panel on Nutrition, Novel Foods and Food Allergens“ der  Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit hat auf Ersuchen der Kommission gemäß Art. 10 Abs. 3 der Verordnung (EU) 2015/2283 ein Gutachten zum Thema „Safety of chia seeds (Salvia hispanica L.) as a novel food for extended uses pursuant to Regulation (EU) 2015/2283“ erstellt und kommt mit Datum vom 14. März 2019 zu folgendem Ergebnis:

In addition to previous safety assessments of chia seeds (EFSA NDA Panel, 2005, 2009) and based on the information provided in the applications that are subject of the present assessment, as well as the ones retrieved from the extensive literature search regarding composition, stability, history of consumption, toxicological and human data regarding whole and ground chia seeds, the Panel did not identify any other hazard which causes safety concerns. In the absence of such hazard and thus, lacking the basis and need to establish safe maximum intake levels for chia seeds, no exposure assessment was conducted.

Also: Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit besteht kein Grund, an einer maximalen Verzehrgrenze für Chia-Samen festzuhalten. Nun bedarf es nur noch eines Durchführungsrechtsaktes nach Art. 12 Verordnung (EU) 2015/2283, um diesen Zustand auch rechtlich verbindlich festzuschreiben. Bis dahin lesen wir aber weiter in der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2470 der Kommission vom 20. Dezember 2017 zur Erstellung der Unionsliste der neuartigen Lebensmittel gemäß der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel in Tabelle 1 des Anhangs unter der Überschrift Chiasamen (Salvia hispanica):

Spezifizierte
Lebensmittelkategorie
Höchstgehalte
Vorverpackter Chia-Samen als solcher 15 g ganzer Chia-Samen/Tag
1. Die Bezeichnung des neuartigen Lebensmittels, die in der Kennzeichnung des jeweiligen Lebensmittels anzugeben ist, lautet „Chiasamen (Salvia hispanica)“.
2. Bei vorverpacktem Chiasamen (Salvia hispanica) ist eine zusätzliche Kennzeichnung erforderlich, welche die Angabe für den Verbraucher enthält, dass eine tägliche Aufnahme von 15 g nicht überschritten werden darf.
 

Überraschende Schlusspointe also: Der Hinweis auf die maximale tägliche Aufnahme von 15 g Chia-Samen ist gegenwärtig noch notwendig. Wer aber als Verbraucher dem zitierten Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit folgen will, ist frei, das zu tun.

Jedoch: Wiedervorlage Anfang Oktober. Denn binnen sieben Monaten ab dem Datum der Veröffentlichung des Gutachtens der Behörde hat die Kommission den Entwurf eines Durchführungsrechtsakts zu erstellen (Art. 12 Abs. 1 Verordnung (EU) 2015/2283).

Ist halt keine so einfache Sache mit dem „Europarecht im Alltag“ … .

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