Bestimmtheitsgrundsatz nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO beim Schmerzensgeld

Birgit Schneider schreibt in der Jura 2014, 323, 328:

Für die von der ZPO geforderte Bestimmtheit genügt es bei diesen [Schmerzensgeldansprüchen, M.H.] ausnahmsweise, wenn der Kläger die Berechnungs- bzw. Schätzungsgrundlagen umfassend darlegt und seine eigene Vorstellung durch Angabe einer Größenordnung oder eines Mindestbetrags eingegrenzt hat.

[….]

Spricht das Gericht dagegen weniger zu, als A [unser Kläger, M.H.] nach seiner Vorstellung für angemessen hält, ist er trotz dieses Unterliegens nicht nach § 92 I ZPO an den Kosten des Rechtsstreits zu beteiligen, wenn die Teilabweisung Teil der Ermessensentscheidung des Gerichts ist.

Fassen wir zusammen: Wenn der Kläger im Rahmen seiner Schmerzensgeld-Klage seine eigene Vorstellung hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldes durch Angabe einer Größenordnung oder durch Angabe eines Mindestbetrags eingrenzt, ist er an der Kostenentscheidung nicht zu beteiligen, wenn ihm im Rahmen der Ermessenentscheidung des Gerichts deutlich weniger zugesprochen wird.

Das scheint man so pauschal nicht sagen zu können:

Stellt der Kläger die Bemessung eines Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts und äußert er in der Klagebegründung nur unverbindliche Vorstellungen über die Größenordnung, so ist Abs. 2 Nr. 2 [des § 92 ZPO, M.H.] zulasten des Beklagten anwendbar, wenn das Gericht von der Angabe um nicht mehr als 20–30 % abweicht.

(MüKoZPO/Schulz ZPO, 5. Aufl. 2016, § 92 Rn. 23)

Eine Abweichung nach unten um 20-30% von der klägerischen Vorstellung hinsichtlich der Höhe des Schmerzensgeldes aufgrund der Ermessensentscheidung des Gerichts wirkt sich im Rahmen der Kostenentscheidung also für ihn nicht nachteilhaft aus. Erst wenn das Gericht um mehr als 30% nach unten von der klägerischen Vorstellung abweicht, wirkt sich dies im Rahmen der Kostenentscheidung für den Kläger nachteilhaft aus. Das sieht nicht nur Schulz so:

Nach der Rechtsprechung des BGH ist ein unbezifferter Klageantrag im Hinblick auf § 253 Abs. 2 Nr. 2 nur zulässig, wenn zumindest ungefähr die Größenordnung des verlangten Betrages genannt wird. Unterschreitet die Verurteilung diesen Betrag, ist § 92 Abs. 2 einschlägig; ist die Unterschreitung nicht mehr unwesentlich, scheidet eine Kostenbelastung allein des Beklagten aus. Es ist dann § 92 Abs. 1 anzuwenden. Die entscheidende Grenze wird zuweilen mit 20 bis 33 % angegeben.

(Musielak/Voit/Flockenhaus ZPO, 16. Aufl. 2019, § 92 Rn. 7)

Auch in Aufsätzen zur Vorbereitung auf das 2. Examen wird auf diese Besonderheit bei der Kostenentscheidung hingewiesen:

Dem Beklagten können auch dann sämtliche Kosten auferlegt werden, wenn das zugesprochene Schmerzensgeld um bis zu 20 % unter dem Antrag des Klägers liegt und diese Abweichung lediglich der richterlichen Ermessensausübung geschuldet ist.

(Weber, JuS 2014, 987, 992)

Wir sollten uns also merken: Weicht das Gericht im Rahmen seiner Ermessensentscheidung mehr als 20-30% nach unten von der klägerischen Vorstellung hinsichtlich des Schmerzensgeldes ab, so wirkt sich dies im Rahmen der Kostenentscheidung für den Kläger nachteilhaft aus.

4 comments

  1. Marco sagt:

    Vielen Dank für diesen Beitrag!

    Ein (vielleicht) weiterführender Gedanke dazu: Der eigentliche Grund dieses prozessual daherkommenden Problems scheint mir die dogmatische Unsicherheit bei der Bemessung von Schmerzensgeldern zu sein.

    Zu ermitteln, was eine „billige Entschädigung in Geld“ ist, gleicht in der Praxis der hM eher der Suche nach der Nadel im Heuhaufen; Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit – Fehlanzeige. Dass daran festgehalten wird, liegt wohl daran, dass man das schon immer so gemacht hat (vgl. beispielhaft die Diskussion um die sog. taggenaue Bemessung des Schmerzensgeldes nach Schwintowski).

  2. T sagt:

    Zwei Anmerkungen:

    1. Bei Angabe eines Mindestbetrags hat das Gericht insoweit nach unten kein Ermessen mehr, sodass dann auch eine Abweichung von < 30 % für eine nachteilige Kostenentscheidung ausreicht.

    2. Laut Rosenberg/Schwab/Gottwald muss nach heutiger Rspr nicht mal mehr eine Größenordnung angegeben werden. Wie läuft denn dann die Kostenentscheidung?

    Grüße!

    • klartext-jura sagt:

      ad 1. Sehe ich auch so.

      ad 2. In der Tat gibt es die Auffassung, dass eine Größenordnung für die Zulässigkeit der Klage nicht mehr angegeben werden muss:

      „Ein Mindestbetrag oder eine Größenordnung muss für die Zulässigkeit der Klage nicht mehr genannt werden.“
      (Geigel Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kapitel 6. Schmerzensgeld (Nichtvermögensschaden) Rn. 25)

      Aber trotzdem gilt immer noch:

      „Das bedeutet freilich nicht, dass der Anwalt nunmehr auf die Angabe einer Betragsvorstellung verzichten könnte. Er muss diese vielmehr weiterhin mitteilen, wenn er sich die Möglichkeit eines Rechtsmittels erhalten will.“
      (Gerlach, VersR 2000, 525)

      Wenn der Anwalt aber auch unter diesem Gesichtspunkt keine Größenordnung nennt, scheint man das Problem in der Praxis so lösen zu können, dass zumindest eine Einlassung auf die gerichtliche Streitwertfestsetzung gefordert wird (vgl. Saenger, Zivilprozessordnung, 8. Aufl. 2019, § 253 ZPO, Rn. 16).

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